Die Agfa Selectronic S … hohe Qualität, aber kleine Emotionen

Agfa Selectronic S Sensor

Ich habe zu kaum einer analogen Kamera in meinem Bestand ein so merkwürdiges Verhältnis wie zu meiner Agfa Selectronic S. In letzter Zeit habe ich mit einigen Kameras jenseits meiner üblichen Favoriten fotografiert. Entweder liebe ich sie (Yashica Electronic 35), mag sie überhaupt nicht (Zeiss Ikon Contaflex Super) oder empfinde sie als immerhin nützlich (Lomo LC-A oder Minox 35 GT). Bei der Agfa Selectronic S trifft jedoch gar nichts davon zu. Dabei ist sie doch eine sehr gute und kompakte Messsucherkamera mit Zeitautomatik … also genau die Art von Kamera, nach der ich schon länger gesucht habe. Doch trotzdem hat es einfach nicht „gefunkt“, obwohl ich so einige Filme mit der Selectronic S belichtet habe. Da sie jedoch rein technisch eine großartige Kamera ist, möchte ich ihr trotzdem einen Artikel widmen.

Die Geschichte der Agfa Selectronic S

Die Agfa Selectronic S wurde 1970 vorgestellt. Wie auch ihre kleine Schwester, die Agfa Selectronic ohne „S“, leitet sie sich von der zweiten Generation der Agfa Optima-Reihe ab. Seit 1959 brachte Agfa unter diesem Namen Kameras mit Programmautomatik heraus, die sich eher an Amateure richteten. Die beiden Agfa Selectronic sollten sich in einem wesentlichen Punkt unterscheiden, denn sie besaßen eine Zeitautomatik. Für Leute wie mich nicht ganz unwesentlich, denn genau das ist meine bevorzugte Weise des Fotografierens. Die Selectronic S ging sogar noch einen sehr großen Schritt weiter. Anders als alle vorherigen Optima-Modelle und die Agfa Selectronic ohne „S“ war sie mit dem vierlinsigen Solinar-Objektiv (ähnlich dem Zeiss Tessar) statt des dreilinsigen Apotar ausgestattet. Außerdem besaß sie als einzige Optima/Selectronic bis zu diesem Zeitpunkt einen Mischbildentfernungsmesser.

Foto der Selectronic aus meinem Wandkalender
Rein technisch eine wunderbare Kamera für unterwegs

Die Agfa Selectronic S war schon sowas wie das Luxusmodell der sehr erfolgreichen Optima-Reihe. Die Ähnlichkeiten sind auch nicht zu übersehen. Durch ihre sehr gute Ausstattung war und ist sie daher nicht nur für Amateure interessant, zumindest als Zweitkamera. Trotzdem verkaufte sie sich damals nicht so gut wie erwartet. Für viele potentielle Käufer war der recht hohe Verkaufspreis von 450 DM einfach zu viel, auch wenn der Preis angesichts der Ausstattung prinzipiell in Ordnung war. Die Optimas und auch sie einfache Selectronic waren deutlich günstiger. Wer dennoch so viel Geld ausgeben wollte, erlag möglicherweise dem Charme der kleinen Rollei 35, die zwar keinen Messsucher hatte, aber mit den bekannten Zeiss Objektiven Tessar und Sonnar punkten konnte.

Auslöser der Agfa Selectronic S
Der große rote Auslöser (von Agfa „Sensor“ benannt) wurde zum eindeutigen Merkmal von Agfa Kameras

Bereits 1974 war daher mit der Selectronic Schluss und Agfa konzentrierte sich im Bereich der Kompakten wieder auf die Optima-Reihe. Die neue Generation, die Optima Sensor electronic, setzte dabei auf den mit der Selectronic eingeführten elektronischen Paratronic-Verschluss. Die Bezeichnung „Selectronic“ wurde zwar 1980 mit der Agfa Selectronic 1, 2 und 3 wiederbelebt, allerdings handelt es sich hierbei um modifizierte Chinon-Modelle. Es war nicht unüblich, Kameras anderer Hersteller umzulabeln, diese Chinon wurden jedoch so umgebaut, dass der für Agfa so typisch gewordene Sensor-Auslöser seinen Platz hatte. Auch diese Modellreihe stellte sich als Misserfolg heraus. Diese Kameras kamen ein paar Jahre zu spät auf den Markt und waren nicht so hochwertig, wie man es von Agfa eigentlich erwarten würde.

Auch wenn die Bezeichnung „Selectronic“ unterm Strich mit wirtschaftlichen Fehlschlägen verbunden ist, würde ich die Selectronic S aber nicht einfach so in die große Schublade mit fototechnischen Irrtümern einsortieren. Sie hat definitiv ihre Stärken, für die man sie lieben kann. Beim Benutzen fallen mir aber auch Schwächen auf.

Wie fotografiert es sich mit der Agfa Selectronic S?

Blick von Oben
Eine schön aufgeräumte Oberfläche

Ich fange mal bei den Stärken der Agfa Selectronic S an. Sie mag zwar auf den ersten Blick nach einem Spielzeug aussehen, nimmt man sie aber erstmal in die Hand, wird man schnell vom Gegenteil überzeugt. Sie liegt durch die sehr eckige Form zwar nicht perfekt, aber dafür angenehm schwer in der Hand. Die Selectronic S ist gut verarbeitet, auch das erstmal nicht sehr hochwertig wirkende Objektiv. Die Oberseite ist sehr aufgeräumt. Da ist nur der Blitzschuh, die Einstellmöglichkeit für die Filmempfindlichkeit und der in das Gehäuse eingelassene Auslöser. Der Schnellspannhebel sitzt wie auch der Bildzähler an der Unterseite des Gehäuses, eine Rückspulkurbel sucht man vergeblich. Agfa hat sich hier eine interessante Besonderheit ausgedacht, denn das Zurückspulen erfolgt mit dem Schnellspannhebel. Keine schlechte Idee, die gut funktioniert.

Unterseite der Selectronic
Der relativ gewaltige Schnellspannhebel dient auch zum Zurückspulen

Das Einlegen des Filmes ist sehr simpel und nicht uninteressant. Beim Öffnen der Rückwand springt der Zapfen zur Arretierung der Filmpatrone nach unten, die neue Patrone lässt sich so sehr einfach einlegen. Ich habe tatsächlich gerade mal in der Bedienungsanleitung nach einem treffenderen Wort dafür gesucht … Agfa nennt das Teil „Filmschlüssel“. Okay … kann man machen. Nach dem Einlegen der Patrone muss man diesen „Filmschlüssel“ wieder ins Gehäuse drücken, der Filmanfang wird unter die Abdeckung auf der linken Seite gesteckt. Auch wenn ich bei den ersten Filmen skeptisch war und genau auf den Filmtransport geachtet habe, funktioniert dieses Schnellladesystem sehr gut.

Geöffnete Agfa Selectronic S
Geöffnete Agfa Selectronic S

Der Sucher der Agfa Selectronic S gefällt mir eigentlich gut. Er ist auch für Brillenträger wie mich groß genug, zeigt die stufenlos verstellbare Blende und die ermittelte Belichtungszeit an. Das Mischbild des Entfernungsmessers könnte allerdings besser sein. Ich habe tatsächlich nach den beiden ersten Filmen den Fokus geprüft, weiß ich vermutete, das meine Kamera nicht richtig justiert ist. Doch es ist alles in Ordnung. Danach habe ich mir mehr Zeit genommen und bekam prompt scharfe Bilder. Ich kenne zum Beispiel von der schon erwähnten Yashica Electro 35 bessere Messsucher. Aber ansonsten ist der Sucher wirklich gut.

Blick durch den Sucher der Agfa Selectronic S
Im Sucherbild werden Blende und Belichtungszeit angezeigt

Kommen wir zu dem großen roten Auslöser, den Agfa Sensor nennt. Er wurde zuerst 1968 mit der zweiten Generation der Optima-Reihe eingeführt und und wurde zu einem Markenzeichen von Agfa. Der Sinn dieses Auslösers ist es, das Verwackeln durch einen langen Auslöseweg zu vermeiden, denn er reagiert schon bei circa einem halben Millimeter. Gegen das Verwackeln hilft das wohl, gegen versehentliches Auslösen aber nicht. Ich empfehle, die Kamera erst kurz vor der Aufnahme zu spannen. Mir ist es zu Beginn öfter passiert, dass ich aus Versehen auf den Auslöser gedrückt habe. Wobei man das nicht Drücken nennen kann … eine versehentliche Berührung reicht ja schon. Das System ist gut, aber nicht immer praktikabel.

Detailansicht der Agfa Selectronic S
Vorderseite

Auf der Vorderseite gibt es auch noch etwas zu entdecken. Da haben wir in der Oberkappe zwei Fensterchen … eines für den CdS-Belichtungsmesser, eines beherbergt eine Kontrollleuchte. Gerade beim Fotografieren im Portrait-Format muss ich immer sehr aufpassen, dass ich den Belichtungsmesser nicht mit den Fingern abdecke. Neben dem Objektiv gibt es noch die Hebel für das Zurückspulen und den in der Regel nicht funktionierenden Selbstauslöser. Leider hat Agfa dort ein Plastikteil verbaut, das in allen mir bekannten Fällen die Zeit nicht überdauert hat.

Zusammenfassend kann ich sagen, dass die Agfa Selectronic S sehr gut bedienbar ist. Das etwas kontrastarme Mischbild, der leicht zu verdeckende Belichtungsmesser und der sehr sensible Auslöser sind Punkte, auf die man achten muss. Und gut macht sich auch eine Münze in der Hosentasche, um die Belichtung anzupassen. Da es keine komfortable Belichtungskorrektur gibt, kann man Anpassungen nur über die Empfindlichkeit des Films vornehmen. Und die lässt sich nur mit einer Münze verstellen. Das hätte Agfa schöner lösen können.

Batterien für die Agfa Selectronic S

Batteriefach der Agfa Selectronic S
Typisch Agfa: das Batteriefach gibt Auskunft über zu verwendende Batterien

Auf irgendeinem Grund lässt sich im Internet öfter die Meinung finden, dass die Agfa Selectronic S Batterien mit 1,35 Volt braucht. Das kommt wahrscheinlich daher, dass diese Batterien früher recht gebräuchlich waren. Dabei weist der kleine Aufdruck am Batteriefach auf zwei Batterietypen hin: Pertrix 246 oder Mn 625 G. Beides waren 1,5 Volt Batterien, deren Nachfahren noch heute erhältlich sind. Die Pertrix wurde von Varta hergestellt, ihr aktuelles Äquivalent ist die V 625 U. Eine andere verwendbare Batterie ist die EPX625G. Beide sind heute noch gut beispielsweise bei Amazon zu bekommen.

Technische Daten der Agfa Selectronic S

SucherDurchsichtsucher mit eingespiegeltem Mischbild, Bildfeldmarkierungen, Anzeige von Blende und Belichtungszeit
ObjektivAgfa Color-Solinar 1:2.8/45, vergütet
BelichtungsmessungCdS-Zelle im Gehäuse
FilmempfindlichkeitsbereichASA 25 bis 400
FokussierungManuell über gekuppelten Mischbildentfernungsmesser
Entfernungsbereich1 m bis ∞
VerschlussElektronisch gesteuerter Zentralverschluss
Verschlusszeiten20 bis 1/500 s
Batterie2x 1,5 Volt Mn 625 G oder Pertrix 246
Abmessungen (B x H x T)116 x 82 x 68 mm
Gewicht486 Gramm

Worauf muss man beim Kauf achten?

Ich halte es für extrem schwierig, eine noch zu 100 Prozent funktionierende Selectronic S zu bekommen. Zumindest der Selbstauslöser funktioniert mit großer Wahrscheinlichkeit nicht mehr. Aber auf den kann man gut verzichten. Apropos verzichten … Agfa hat auf Lichtdichtungen verzichtet, daher muss man sich um dieses Thema nicht kümmern. Prinzipiell gibt es drei Schwerpunkte:

  • Verölte Blendenlamellen
  • Elektrikprobleme durch ausgelaufene Batterien und/oder korrodierte Kontakte
  • Ein schwergängiger Filmtransport

Der Filmtransport war bei mir auch ein Problem. Beim ersten Film war die Perforation plötzlich gerissen, ich habe die Film-Patrone zunächst wegen dem verklemmten „Filmschlüssel“ … das Wort ist irgendwie schon witzig … nicht aus der Kamera bekommen. Sowas ist bei der Agfa Selectronic S zum Glück einfach zu reparieren, da die gesamte Mechanik zum Filmtransport gleich hinter der Bodenplatte liegt. Daher kommt man sehr gut ran, kann die Mechanik reinigen und ggf. neu ölen.

Das größte Problem beim Kauf wird es sein, überhaupt eine Selectronic S zu bekommen. Es gibt Optima-Modelle in Massen, auch die Selectronic ohne S ist öfter zu bekommen. Der Preis für eine lt. Verkäufer funktionierende Selectronic S bewegt sich zur Zeit zwischen 30 und 40 Euro … das ist sie auch definitiv wert! Sie ist eben eine völlig unterschätzte Kamera.

Fazit

Die Agfa Selectronic S ist eine Kamera, zu der meine Meinung zwiespältig ist. Der Verstand sagt: „Hey … was für eine großartige Kamera! Die ist perfekt als alltägliche Begleiter.“ Doch nehme ich sie in die Hand, will ich nicht gleich los und Fotos machen. Sie hat für mich den Charme einer Schrankwand aus den 70ern … zwar sehr praktisch und funktional, aber insgesamt für mich sehr unspannend. Mir fehlt das gewisse Etwas, dass sich rational überhaupt nicht beschreiben lässt. Andere Kameras wie meine Contax oder die Electro 35 nehme ich sehr gerne zur Hand und möchte sie dann auch benutzen. Ich mag das Gefühl dabei, die Geräusche beim Auslösen oder Spannen. Das ist ein Erlebnis, das mir die Selectronic S nicht bietet. Was wirklich schade ist!

Beispielfoto, Schwarz-Weiß, alter Baumstamm
Aufgenommen mit der Agfa Selectronic S

Auf der anderen Seite stehen die mit der Selectronic S gemachten Fotos. Natürlich gibt es inzwischen bessere Objektive als das nach dem Tessar-Schema gebaute Agfa Solinar, den Charakter des Tessars mag ich jedoch heute noch sehr. Es ist ein wirklich wertiges Objektiv, das sich qualitativ von dem in der Optima-Reihe verbauten Apotar abhebt und die Agfa Selectronic S durchaus zu einer besonderen Kamera nicht nur im Vergleich zu anderen Agfa Kameras macht. Diese Mischung aus wirklich gutem Objektiv, Zeitautomat und Messsucher in kompakter Form … es gibt tatsächlich wenige Alternativen dazu. Nur weil es zwischen mir und dieser Kamera nicht gefunkt hat, können andere sie trotzdem lieben. Deswegen kann ich nur empfehlen, diese komplett unterschätze Kamera mal auszuprobieren.

Beispielfoto, Schwarz-Weiß, Strauch im Winter
Aufgenommen mit der Agfa Selectronic S
Beispielfoto, Schwarz-Weiß mit Voglehaus
Aufgenommen mit der Agfa Selectronic S

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